Links überspringen

MARTINA GEIST – NATURNAH

Kunststiftung Erich Hauser Rottweil, 2018

ÜBER DIE BEZIEHUNG VON KUNST UND NATUR

Text von Heiderose Langer

Natur ist das Bezugssystem, aus dem Martina Geist die Motive für ihre Fahneninstallation in der Werkstatthalle des Stahlbildhauers Erich Hauser generiert. Früchte, Blätter, Zweige und Ranken, gemalt, gedruckt und appliziert auf durchscheinendem Fahnenstoff und ergänzt durch eine Auswahl an Holztafeln und Holzschnitten, eröffnen in der nüchternen, funktionalen Halle eine Interaktion zwischen Natur, Technik und Architektur.

In der klassischen Tradition wird Natur als Gegensatz zum Ressort des Menschen begriffen und Natur versus Technik bzw. Natur versus Kultur gesetzt. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Natur lösen sich jedoch die Konturen des Naturbegriffs auf. Zugleich wird sich der Mensch, der sich selbst als Verkörperung von Geist, Seele und Vernunft in Abgrenzung zur Natur definiert hat, durch die zunehmende Zerstörung der Umwelt seiner eigenen Natürlichkeit und damit Verletzbarkeit bewusst. Er fokussiert den Blick auf das Spannungsverhältnis von natürlicher und kultivierter Natur. „Wenn man die Wahl hätte zwischen einem unbehandelten Apfel und einem gespritzten und gewachsten, dann wäre die Entscheidung wohl klar: natürlich Natur. Vorausgesetzt, der Apfel ist nicht gerade pockennarbig und voller Würmer. Vorausgesetzt, die naturbelassene Natur ist das Paradies (…). Von der naturbelassenen Natur wird erwartet, dass sie kultiviert sei: sicher und sauber.“[1] In diesem vielschichtigen Bezugsfeld von Natur und Kultur lassen sich die Werke von Martina Geist verorten.

In ihren Bildwelten spielen Früchte wie Zitronen, Kirschen und Äpfel eine zentrale Rolle, wobei es der Künstlerin nicht auf die Gestaltung detailgetreuer Abbilder der Realität ankommt. Die Produkte der Natur werden vielmehr auf elementare Grundformen und damit auf das Wesentliche reduziert. Sie geben Anlass zum freien und abstrakten Austarieren von Linien und Flächen im Raum verbunden mit einem stimmigen Zusammenklang von Farbe und Licht. Zugleich werden sie als zeichenhafte Verweise auf die Ausdruckskraft und Symbolik der Natur eingesetzt. So leuchten die Naturformen in einem saftig-prallen Rot, frischen Gelb und fruchtigen Grün. Sie wecken Emotionen und Erinnerungen an Natur- und Geschmackserfahrungen. Zudem durchflutet das in die Werkstatthalle einfallende Tageslicht die Fahneninstallation und löst die Materialität des doppelseitig bearbeiteten Fahnenstoffes scheinbar auf. Es wechseln sich transparente und deckende Flächenformen ab. Ein Windhauch vermag die schwebend-leichten Textilbahnen in Schwingung zu versetzen.

Die Umhergehenden werden von den einzelnen Fahnen bzw. mehrteiligen Fahnenserien sanft umfangen. Durch veränderte Blickachsen und Perspektivwechsel werden ästhetische Wandlungsprozesse wahrnehmbar, sei es die farblichen Veränderungen der Vorder- und Rückseite der Fahnen und ihr Zusammenspiel oder der vom natürlichen Licht gesteuerte Wechsel zwischen grafischer Linienführung und organisch präsenter Form, zwischen Statik und Bewegung, Ordnungs- und Wachstumsvorgängen. Zum Beispiel die schwarzen Farbbahnen: Zum einen verwandeln sie sich in skulpturale Gebilde und erinnern an Äste und Zweige, zum anderen lassen sie an Wegesysteme denken, die einzelne Formelemente miteinander verknüpfen. Sind es autonome Bewegungsspuren oder lebenserhaltende Versorgungswege für Blätter und Früchte? In der Verbindung von Gegenständlichkeit und Abstraktion liegt die Mannigfaltigkeit der Bildwelt von Martina Geist.

Ihre poetisch-sinnliche Rauminstallation mit dem Titel „Naturnah“ macht die Zeit der Natur ästhetisch erfahrbar. So stellt sie die Fruchtbarkeit der Natur ebenso in den Fokus wie die zyklische Erneuerung und Vergänglichkeit naturhafter Prozesse. Während Erich Hauser seine stählernen Formgebilde gegen die Natur setzt, wodurch es seiner Meinung nach möglich wird, die Natur neu zu sehen und zu erleben, bezieht sich Martina Geist auf das vielfältige Farben- und Formenrepertoire und öffnet ihre abstrahierten Formgebilde in eine metaphorische Dimension. Nicht der chaotischen, ungezähmten und zerstörerischen Seite der Natur, nicht Üppigkeit und wildem Wachstum gilt ihr künstlerisches Interesse. Sie formuliert viel eher mit ihren bildnerischen Mitteln und in der Sprache der Abstraktion Momente der Achtsamkeit und Wertschätzung für jedes einzelne Naturprodukt. In seiner „Ästhetischen Theorie“ schreibt Theodor W. Adorno: „Was Natur vergebens möchte, vollbringen die Kunstwerke: sie schlagen die Augen auf.“[2]

Es ist das Erleben von Klarheit, Ordnung und Stille, welches die Fahneninstallation von Martina Geist – in Analogie zu Erfahrungen im Natur- und Landschaftsraum – visualisiert. Wesentlich für dieses sinnlich- emotionale Potential ist die Wahl des Werkstoffes. Hierzu besinnt Martina Geist sich mit der Entscheidung für ein textiles Material, den Fahnenstoff, und mit ihrer Entscheidung für das Nähen auf traditionsreiche Kulturtechniken. Stoff, ein feines Gewebe aus Fäden, weich fließend, lichtdurchlässig und schwebend im Raum negiert jede Erdung. Als Bildträger eingesetzt, werden die materialgeleiteten Empfindungen wie Leichtigkeit und Transparenz als ästhetische Qualitäten verstanden. Diese Empfindungen können für Freiheit im Sinne von Beweglichkeit und Veränderung, auch für die Freiheit der eigenen Subjektivität stehen. Und mit dem Nähen greift die Künstlerin eine weiblich codierte Handarbeitstechnik auf. Dabei kommt dem Faden, im Sinne Paul Klees verstanden als organische Linie die Aufgabe zu, die recycelten wie auch bemalten Flächenformen zu konturieren und mit dem textilen Untergrund zu verbinden.

Dem Gedanken des Verwebens, des Ordnens und Anordnens, des Schneidens und Zusammenfügens liegt die Technik der Collage zugrunde. Die gemalten, genähten und gedruckten Bildmotive der textilen Arbeiten von Martina Geist begegnen und überlagern sich. In dieser Kombinatorik bzw. Schichtung liegt die Möglichkeit der Rekonstruktion und Neuschöpfung von Bildräumen. Zudem verwendet die Künstlerin im Verlauf ihres Arbeitsprozesses auch Versatzstücke der Realität wie Stoffteile aus Werbebannern und bemalt diese. Sie vermag so die äußere Realität in einen Dialog mit ihren Bildentwürfen einzubinden. Die Geschichten und individuellen semantischen Verweise vorgefundener, einst in Gebrauch gewesener Dinge wie auch gegenwärtiges künstlerisches Handeln verschmelzen in den Fahnen zu einem Kondensat des Lebens.

Auch die Anordnung der Fahnen in der Werkstatthalle folgt der Denkform der Collage. Sie rhythmisieren und gestalten den Raum, verdichten und überschneiden sich, lassen Leere zu und öffnen Durchblicke, Nah- wie auch Fernsichten. Sie nehmen den Umraum in sich auf. Das Sonnenlicht schimmert durch den Stoff: „Damit steht die Zeichnung im Raum“, sagt Martina Geist. Und das von außen eindringende Frühlingsgrün der Bäume und Sträucher komplementiert die naturästhetische Rauminszenierung.
Bewegung ist auf allen Ebenen als Lebenselixier gegenwärtig. Bewegung, auch ein Grundphänomen der Natur, meint organische Prozesse der Veränderung und des Wandels, meint das Leben in allen seinen Facetten. Einerseits wissen wir um die Flüchtigkeit und Endlichkeit von Naturprozessen, andererseits existieren Naturabläufe wie die Planetenbahnen, die für Regelmäßigkeit und Ordnung, für Beständigkeit und die Idee des Immer-Seienden stehen. Vorstellungen vom ewigen Sein und künstlerischer Unsterblichkeit finden sich auch im künstlerischen Schaffen von Erich Hauser. Seine stählernen Himmelsstürmer aus dem widerständigen und extrem haltbaren, schweren und kalten Material Stahl ragen entschlossen in den Himmel. Man könnte auch sagen, sie wachsen wie Bäume empor, sind voller Kraft, Energie und Potenz.

Ganz anders behauptet sich das fein ausbalancierte Zusammenspiel der leichten, weich fallenden und durchscheinenden Fahnen von Martina Geist, die den Augenblick spüren und ebenso Vergänglichkeit ahnen lassen. Beziehungen zum und Verschränkungen mit dem Ort Erich Hausers, wie sie von der Künstlerin initiiert werden, weiten den Blick. Den Betrachterinnen und Betrachtern legen die Werke nahe, Korrespondenzen mit dem eigenen Leben zu erfahren sowie das Momentane und Veränderliche wie auch die kraftvolle Präsenz von Schönheit und Harmonie wahrzunehmen. Die Natur und die Dinge der realen Welt macht Martina Geist mit den Mitteln der Kunst neu erfahrbar. Damit ermöglicht sie den Betrachterinnen und Betrachtern auf dem Weg der Abstraktion eine andere, freiere Sicht der Welt.

[1] Gernot Böhme: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1992, S. 9.

[2] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. 7, hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 104.

Zurück